Es gibt Geschichten, die sind so alt, dass niemand mehr weiß, wann genau sie geschahen.
Sie wurden am Feuer erzählt, von Müttern an ihre Kinder, von Alten an die Jungen, von Generation zu Generation weitergetragen.
Manche sagen, sie seien nur Märchen. Andere behaupten, sie seien die Wurzeln dessen, was Bratonien heute ist.
Eine dieser Geschichten handelt vom Ersten Lachen – dem Augenblick, in dem das Reich seinen Herzschlag fand.
Vor vielen Jahrhunderten, als Bratonien noch kein Königreich mit Türmen und Mauern war, sondern nur eine Handvoll Dörfer, kam ein Sommer, der alles veränderte.
Die Sonne stand wochenlang unbewegt am Himmel. Felder verdorrten, Brunnen versiegten, selbst die Flüsse zogen sich wie erschöpfte Tiere zurück in die Erde.
Die Menschen litten. Die Kinder hatten eingefallene Wangen, die Alten tranken das letzte Wasser aus Schalen, die Tiere lagen reglos in den Ställen.
Und immer wieder erhob sich dieselbe Frage: Wie lange können wir hier noch leben?
Die Stimmung war schwer, fast greifbar. Die Nächte waren stiller als gewöhnlich, denn selbst die Grillen schienen das Singen aufgegeben zu haben.
Eines Abends versammelten sich die Dorfbewohner auf dem Marktplatz.
Niemand wusste mehr, ob es Morgen oder Abend war, denn die Tage waren ineinandergeflossen, ein endloses Band aus Hitze und Staub.
Dort standen sie: der Schmied mit seinen rußverschmierten Händen, die Bäckerin mit ihren leeren Körben, Mütter mit müden Kindern im Arm, und die Alten, die ihre Köpfe schüttelten und von „früheren Zeiten“ murmelten.
Viele wollten fortgehen, ihr Land verlassen. „Es gibt keinen Grund mehr zu bleiben“, sagte ein Bauer. „Wir werden sterben, wenn wir hier bleiben“, fügte eine Frau hinzu.
Da erhob sich eine alte Frau, die alle nur als Marta die Erzählerin kannten.
Sie war klein, gebeugt vom Alter, mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. Doch wenn sie sprach, verstummte der Platz.
Marta begann von Dingen zu sprechen, die viele längst vergessen hatten.
Sie erzählte nicht von Königen oder Kriegen, sondern von den Tagen, als Bratonien noch gar keinen Namen hatte.
Von den ersten Hütten am Waldrand, wo die Menschen erschöpft von der Arbeit um ein Feuer saßen und nichts hatten – außer einander.
„Es war das Lachen,“ sagte sie, „das uns damals getragen hat. Kein Brot, kein Wasser, kein Gold. Nur das Lachen.“
Die Menschen schauten sie an, manche mit Skepsis, andere mit leeren Augen.
Wie sollte man lachen, wenn der Magen leer und die Kehle trocken war?
Doch Marta ließ sich nicht beirren. Sie begann, eine Geschichte zu erzählen – nicht laut, nicht dramatisch, sondern ruhig, fast beiläufig.
Es war eine einfache Geschichte: von einem Jungen, der sein Mittagessen in den Bach fallen ließ und verzweifelt versuchte, es mit einem Stock wieder herauszufischen.
Wie er immer tiefer ins Wasser rutschte, bis er selbst nass und beschämt am Ufer stand – und dann lachen musste, über seine eigene Ungeschicklichkeit.
Die ersten Kinder auf dem Platz kicherten.
Dann lachten sie, hell und frei, ein Klang, der durch die Gassen trug.
Ihre Eltern blickten sie erschrocken an – wie konnten sie in solch einer Zeit lachen?
Doch das Kichern steckte an. Bald lachten die Mütter, dann die Männer, dann die Alten.
Der Platz füllte sich mit Gelächter. Erst zaghaft, dann lauter, bis es wie ein Strom durch das Dorf rauschte.
Die Menschen hielten sich den Bauch, manche hatten Tränen in den Augen – Tränen, die nicht aus Trauer, sondern aus Freude kamen.
Und in dieser Nacht, so sagen die Chroniken, geschah etwas.
Ein Wind erhob sich, kühl und frisch, als hätte er das Lachen aufgegriffen und in den Himmel getragen.
Am Morgen war der Himmel nicht mehr flammend weiß, sondern grau von Wolken.
Am Mittag fiel der erste Regen.
Die Erde sog das Wasser gierig auf, die Felder tranken, die Brunnen füllten sich.
Und die Menschen wussten: Es war nicht der Regen allein, der sie gerettet hatte.
Es war das Lachen, das ihre Herzen wieder geweckt hatte.
Viele Generationen waren vergangen, seit das erste Lachen die Dürre gebrochen hatte.
Bratonien war gewachsen: Aus Dörfern waren Städte geworden, Märkte voller Stimmen, Mauern ragten stolz in den Himmel.
Doch mit dem Wohlstand kam das Vergessen.
Das alte Wissen, dass das Lachen die Quelle des Lebens war, verblasste.
Und so wagte ein Heer, was lange niemand gewagt hatte:
Es zog vor die Mauern und schloss Bratonien ein.
Tag und Nacht hallten Trommeln durch die Täler.
Rauch von den feindlichen Feuern legte sich über die Stadt.
Die Herzen der Menschen füllte Schweigen und Furcht.
Nur die Alten murmelten: „Damals war es das Lachen, das uns rettete…“
Doch niemand glaubte es.
Auf den Gassen herrschte Stille.
Kinder weinten leise, Frauen schwiegen, Männer blickten mit leerem Blick auf die Zinnen.
Es war, als hätte die Stadt ihren Atem verloren.
Da saß eine junge Frau mit ihren Kindern auf den Stufen des Marktplatzes.
Ihr Name ist verloren, doch die Chroniken nennen sie die Lachende.
Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Großmutter:
„Vergiss nie, Kind – Bratonien lebt nur, solange sein Volk lacht.“
Es klang wie ein Märchen, das sie einst am Herdfeuer gehört hatte.
Doch in dieser Nacht, ohne Hoffnung, ohne Ausweg, blieb ihr nichts außer diesen Worten.
Also tat sie, was die Alten immer getan hatten: Sie erzählte eine Geschichte.
„Wisst ihr noch,“ begann sie, „wie ich im Frühling auf dem Markt stand mit dem großen Korb Äpfel?“
Ihre Kinder nickten.
„Ich wollte stark wirken – also hob ich den ganzen Korb auf die Schulter. Doch der Boden war glatt.
Ich rutschte aus, lag plötzlich auf dem Rücken – und die Äpfel rollten durch die ganze Gasse!
Einer landete sogar im Helm des Schmieds, ohne dass er es merkte.
Und die Hühner jagten hinter den Äpfeln her, als wären es Würmer!“
Die Kinder kicherten.
Die Frau musste lachen, während sie erzählte – lachen über ihr eigenes Missgeschick.
Ein paar Menschen blieben stehen, hörten zu.
Sie sahen die Kinder lachen – und lachten mit.
Bald waren es Dutzende, die sich um sie sammelten.
Und je mehr sie lachte, desto mehr brach die Angst.
Da geschah es: Ein einzelner Lichtstrahl durchbrach den Rauch über der Stadt.
Er fiel mitten auf den Platz, genau dorthin, wo die Frau und ihre Kinder saßen.
Wer im Licht stand, schien auf einmal wärmer, heller, aufrechter.
Und mit jedem Lachen breitete sich das Licht weiter aus, von Gesicht zu Gesicht, von Straße zu Straße, bis die ganze Stadt davon berührt wurde.
Auf den Mauern begannen die Wachen zu lachen.
Sie stellten sich fester hin, riefen den Feinden mit Spott und Heiterkeit entgegen.
Die Trommeln draußen verstummten.
Denn was die Belagerer hörten, war nicht das erwartete Weinen, sondern das Lachen eines ganzen Volkes.
Sie sahen den Lichtstrahl, hörten das Jubeln – und sie fürchteten, eine alte Macht sei erwacht.
Manche flohen in Panik, andere schworen, nie wieder gegen Bratonien zu ziehen.
Am Morgen waren die Felder vor den Mauern leer.
Kein Zelt, kein Banner, keine Trommel.
Das Volk aber wusste, wem es dies verdankte.
Nicht den Schwertern, nicht den Mauern, nicht den Vorräten – sondern einer Frau, die in größter Not wagte zu lachen.
Sie hoben sie auf den Schild und nannten sie ihre erste Königin.
Seitdem steht in den Chroniken:
„Sie lachte nicht, weil es Grund zur Freude gab.
Sie erzählte und lachte, weil es die letzte Hoffnung war – und darum wurde sie Königin.“
Und so wurde das Lachen nicht nur Brauch, sondern Herzschlag Bratoniens.